Das kannst du schon allein

Das kannst du doch schon allein!

Eine gute Nachricht vorweg: Die normale Entwicklung sieht vor, dass Kinder mit der Zeit immer selbständiger werden. Selbständig in Bezug auf das, was für uns Menschen wichtig ist: ein kompetenter Teil der sozialen Gemeinschaft zu sein. Unsere Entwicklung sieht also vor, dass wir Fähigkeiten wie Kommunikation, Einfühlungsvermögen, Verständnis und das Verinnerlichen von sozialen Regeln stetig verbessern.

Das klingt jetzt erstmal noch nicht nach selbstständig die Schuhe anziehen. Für die kindliche Entwicklung ist das vermutlich auch nur indirekt wichtig. Für Eltern sind es aber oft diese alltagspraktischen Dinge wie alleine einschlafen, essen, sich anziehen und Zähne putzen, an denen sie die Selbständigkeit ihrer Kinder messen. Und die sie fördern wollen.

Warum wünschen wir uns zunehmend selbständige Kinder? Im Kontext frühkindlicher Betreuung wird frühe Selbstständigkeit von Eltern und Kitafachkräften häufig als positiv hervorgehoben. Und nochmal: natürlich ist es eine Errungenschaft, wenn Kinder Fertigkeiten erlernen. Dort ziehen sich Kinder ihre Schuhe selbst an, essen vielleicht zum ersten Mal ordentlich mit Löffel und Gabel, können schon früh „selbstständig“ stundenweise ohne ihre Eltern an einem Ort verweilen. Haben „ihren eigenen Bereich“ neben dem Leben zu Hause.

Man darf dabei aber nicht die Bedeutung von Selbstständigkeit für uns Erwachsene und Selbstständigkeit aus Perspektive der Kinder verwechseln.

Der Wert der Selbständigkeit ist für Kinder immer gleich – in der Erwachsenenwelt scheint er stetig zuzunehmen. Die Gründe sind vermutlich wie so oft komplex. Aber ein Aspekt könnte sein, dass es eine alltagspraktische Entlastung bedeuten würde, könnten sich die Kleinen die Schuhe selbst anziehen, die Zähne zuverlässig putzen und so weiter. Wo das “Dorf”, das bei der Versorgung von Kindern helfen sollte, längst nicht mehr da ist, kommen wir einfach auch schneller an unsere kraftmäßigen Grenzen. Die Natur hat eher nicht vorgesehen, dass sich bei den Menschen ein bis zwei Individuen alleine um den Nachwuchs kümmern. Belastungsgrenzen sind hier verständlicherweise schnell erreicht. In der Frühbetreuung bedeutet die Eigen- und Selbstständigkeit der Kinder letztlich auch eine Entlastung der Gruppe. „Sich die Schuhe anziehen“ ist aber nur eine recht oberflächliche Betrachtung von Selbstständigkeit:

Denn was bedeutet Selbständigkeit für Kleinkinder? Es bedeutet, zunehmend Dinge selbst auszuprobieren, sich als eigene Person in einer sozialen Gruppe zu erfahren. Das Ziel dieser Entwicklung ist ein stimmiges, beständiges “Selbst” – das ist die Entwicklungsaufgabe der “Selbständigkeit” für Kinder. Das kann bedeuten, einen Tag die Schuhe selbst anziehen zu wollen und zu können, am nächsten Tag aber ist es vielleicht schon ein anderes Thema, an dem man sich ausprobiert. Verstehen die kindlichen Bezugspersonen diesen Motor der Selbstständigkeit nicht, kommt es dann gern zu einem vorwurfsvollen: „Du kannst dir die Schuhe doch schon selbst anziehen! Jetzt lass dich nicht so bedienen.“

Ist „Schuhe anziehen“ erlernt, wendet sich das Kleinkind häufig gern einer neuen Herausforderung zu. Vielleicht zieht es im Kontext KITA die Schuhe selbst an. Im heimischen Kontext möchte es genau das eben nicht tun.

Und was bedeutet Selbständigkeit für Erwachsene? Oft nehmen wir an, eine einmal erlernte Sache grundsätzlich eigenständig ausführen zu können. Einmal Schuhe selbst angezogen, immer Schuhe selbst anziehen. Fortschritte machen. Keine Rückschritte. Doch Entwicklung läuft anders ab. Entwicklung kostet enorm viel Kraft und diese muss irgendwoher geschöpft werden. Also lässt sich häufig beobachten, dass Kinder, die einen neuen Kraftakt an Entwicklung geleistet haben, in anderen Bereichen vielleicht wieder weniger “selbständig” sind. Das Kleinkind, das ohne Mittagsschlaf auskam, braucht – im Kindergarten eingewöhnt – wieder den Mittagsschlaf (und vielleicht sogar wieder den Arm der Eltern, den Schnuller oder andere Begleiter dazu). Auch die Einschulung kann so ein Kraftakt sein und auf einmal brauchen Grundschulkinder an anderer Stelle wieder mehr Versorgung. Und geht es uns Erwachsenen nicht genau so? Sehnen wir uns nicht auch nach einem anstrengenden Arbeitstag nach Erholung – eine Serie schauend auf dem Sofa oder einen Tag nur im Bett verbringend und nichts tun…? Und würden wir vermuten, zu keiner Leistung mehr in der Lage zu sein, wenn wir uns diesen “Rückschritt” aus dem dauernden Funktionieren erlauben? Vielleicht kommt sogar schnell der Gedanke, nur nicht zu “faul” zu sein. Aber wie bei allem geht es doch um das Maß: Nur auf dem Sofa zu liegen ist genauso schlecht für uns wie nur durchzuarbeiten. Und auch Kinder brauchen weder überfordernde Erwartungen an ihre Selbstständigkeit, noch Eltern, die für sie alle Steine aus dem Weg räumen. Das “Nein, selber machen!” ist der oft lautstarke Antrag darauf, die Dinge angehen zu dürfen. Dabei können Eltern ihre Kinder begleiten, auf ihre Sicherheit achten und die aufwallenden Emotionen aushalten, die diese Erprobungen oft mit sich bringen.

Wir sollten uns dringend immer wieder fragen, wer gerade den Takt für die Entwicklung unserer Kinder vorgibt. Eine möglichst schnelle Entwicklung ist nicht gleichbedeutend mit einer guten, sicheren Entwicklung. Das kann sogar nach hinten losgehen: dann verhalten sich Kinder “pseudoselbständig”. Sie zeigen sich auffallend unabhängig und selbständig im Vergleich zu Gleichaltrigen. Statt von ihren Bezugspersonen Hilfe einzufordern, gehen sie lieber alles alleine an. Dahinter steckt jedoch oft die Erfahrung, dass Bezugspersonen vielleicht nicht verfügbar sind für ihre Bedürfnisse und sie nicht auf andere zählen können. Tatsächlich sind diese Kinder andauernder Überforderung ausgesetzt und keineswegs in gesunder Weise selbständig. Eine nachhaltig gute Entwicklung kann nur in einem ausreichend sicher gebundenen Umfeld stattfinden. Sie braucht Zeit und unterwirft sich nicht dem Takt unseres oft viel zu vollen und gehetzten Alltags. Und sie verläuft meist nicht steil bergauf, sondern ist von Umwegen, Pausen und auch mal einem Schritt zurück begleitet.