Kitafachkräfte berichten

Erfahrungsbericht: Erzieherin Anja* (*Name geändert) ist 34 Jahre alt und arbeitet im U3-Bereich in einer Kita in Nordrhein-Westfalen. 

„Ich wache früh auf. Eigentlich immer vor dem Wecker, den brauche ich schon lange nicht mehr. Und sofort spüre ich diese Unruhe – erst mal sortieren.. Ah: Es ist Mittwoch und „eigentlich“ ist alles gut. Kein Grund zur Unruhe. Mein Privatleben ist stabil und ausgeglichen, ich bin gerne unterwegs mit Freunden. Eigentlich! Und doch ist da dieses Gefühl im Magen. Und da kommen auch schon die Gedanken…

Ich denke nach über meinen Job in der U3-Gruppe im Kindergarten. Melanie war gestern nicht da, ob sie heute kommt? Ben, der Kleine aus meiner U3- Gruppe bleibt seit drei Wochen den ganzen Tag, die Eingewöhnung ist abgeschlossen. Er weint viel und sitzt oft eine halbe Stunde auf meinem Schoß, bevor er einen kleinen Schritt alleine machen kann. Ohne Melanie kann ich ihn nicht auf den Arm nehmen, hoffentlich bin ich überhaupt in seiner Gruppe. Solche Gedanken habe ich sehr oft am Morgen – direkt nach dem Aufwachen. Den Kaffee trinke ich nebenbei, essen mag ich nichts.

Jetzt ist Melanie wirklich die ganze Woche krank, sie hat eben in der Kita angerufen. Überhaupt durchfährt mich jedesmal ein Schauer, wenn das Telefon vor 9 Uhr klingelt. Fällt vielleicht noch jemand aus? Aber es bringt alles nichts – ab da durch jetzt.

Niki, unser Praktikant ist heute bei mir. Das ist gut. Niki ist nett. Nur kleben dann alle Kinder an mir, weil sie Niki noch nicht so gut kennen. Aber wie viele Kinder passen auf meinen Schoß? Wenn der besetzt ist, muss Ben warten und alleine weinen. Und wenn Ben auf meinem Schoß sitzt, müssen die anderen warten. Ich habe mal eine Trage für den Rücken mitgebracht, damit ich die Kleinen tragen kann und für die anderen auch noch da sein kann. „Das geht nicht“ sagte mir die Leitung. „Die Kinder sollen sich daran gewöhnen, dass sie hier nicht den Anspruch auf eine 1:1 Betreuung haben.“ Je resoluter ich da sei, umso schneller habe sich das Kind daran gewöhnt. Das kann ich nicht und muss es doch machen. Kleiner Ben bitte begreife schnell, dass hier keiner auf deine Bedürfnisse eingehen kann. Ben ist stark und ausdauernd, ich befürchte, es wird noch lange dauern, bis er aufgibt. Dabei möchte ich ihn unterstützen und bestärken, dass Kraft und Ausdauer gut sind und er es unbedingt kultivieren soll. Im Leben würde es ihn stärken.

Bens Mama hat mir in der Eingewöhnung erzählt, dass Ben immer an ihrer Nagelhaut spielt, wenn sie ihn in den Schlaf begleitet. Wenn ich die Möglichkeit habe, bleibe ich an seinem Bettchen und er sucht meine Nagelhaut. Er atmet dann ruhiger, das spüre ich genau. Doch Melanie ist die ganze Woche nicht da und Marie, Milla, Sophie, Mira, Max, Noah, Emil, Henry und Theos Eltern haben uns auch erzählt, was ihre Kinder gerne haben, was ihnen hilft, sich zu regulieren, da sie es allein noch nicht können.

Wir haben es notiert, im Ordner ist es gut aufgehoben. Leisten können wir es nicht. Und den Eltern sagen, dass wir es nicht können, auch nicht.

Und dann am Nachmittag kommen die Eltern. Für mich ein Gefühl der Erlösung und gleichzeitig spüre ich erst jetzt die Müdigkeit in meinen Knochen. Natürlich fragen die Eltern, wie der Tag war und ich lüge sie an. „Gut war es! Ben hat mit Louis gespielt und wunderschöne Bilder gemalt. Mögen Sie einmal schauen, sie sind in seiner Box.“

Das habe ich schon immer so gemacht. Das, was gut am Tag war, habe ich den Eltern erzählt. Mir war lange nicht klar, dass die Eltern das Recht haben, zu erfahren, wie oft ich am Tag über den Zustand ihres Kindes verzweifelt war. Wie oft ich beobachtet habe, dass es in Not ist und alleine da nicht rauskommt, ich die Verzweiflung und den Stress gefühlt habe und nichts machen konnte.

Zum einen sind da noch so viele andere Kinder, das ganze drum herum muss gewuppt werden. Und da gibt es auch noch mich mit meinen Bedürfnissen und Gefühlen. Diese transportiere ich direkt an das kleine Kind. Ungefiltert und oft mit einer so großen Wucht. In einem Seminar habe ich den Spruch von Martin Buber gehört „Ein Mensch wird am DU zum ICH“. Was für ein DU bin ich für das Kind in diesem System? Seit ich mir diese Frage stelle, kann ich nicht mehr weiter machen wie bisher. Die Konsequenz nach langem hin und her, bedeutet für mich den Ausstieg aus meinem Beruf, den ich mit so großer Leidenschaft angetreten bin.

Mein Wunsch ist, dass Eltern Verantwortung übernehmen und auf eine gute Betreuung für ihr Kind bestehen. Meine Geschichte ist die Regel, das weiß ich aus zahlreichen Gesprächen mit Kolleg:innen. Eltern haben eine große Macht. Wenn sie sich zusammentun würden, um für bessere Bedingungen in den Kitas und somit für das Wohl ihrer Kinder einzutreten, könnte sich etwas ändern. Wird immer weggesehen und „irgendwie geht es schon“ gesagt, ändert sich mit Sicherheit nichts.“

Erfahrungsbericht von Erzieherin Janine*, 38 Jahre (*Name geändert)

Janine hat sich als Erzieherin bewusst für die Arbeit mit Kindern ab 3 Jahren entschieden. Während sie wegen Personalmangels in einer U3-Gruppe aushilft, macht sie folgende Beobachtungen:

Als ich den Gruppenraum betrat, wurde ich freudig und erwartungsvoll von neun kleinen Menschen begrüßt. Ich setzte mich zu ihnen auf den Spielteppich und prompt wurde mein Schoß in Beschlag genommen. Ein anderes Kind brachte mir eine Holzeisenbahn und eine Handvoll Schienen und machte es sich neben mir auf dem Teppich bequem. Schon suchte ein weiteres Kind meine Aufmerksamkeit und versuchte mir deutlich zu machen, dass sich seine Puppe in fremden Händen befand und es sie gerne wieder hätte. Ich war etwas verdutzt über diesen großen Vertrauensvorschuss. So viel Offenheit gegenüber Fremden kenne ich von meinen eigenen Kindern nicht. Es war viel los um mich herum und ich war gleich mittendrin. Jedes Kind wollte seine Bedürfnisse mit mir teilen und jedes beschäftigte sich mit seinem ganz eigenen. Kontaktaufnahme zwischen den Kindern gab es nur, wenn die jeweiligen Interessen auf denselben Gegenstand gelenkt wurden und es zum Streit darum kam.

Da blies meine Kollegin auch schon zum Aufräumen. „Eins, zwei, drei, das Spielen ist vorbei…“ Es sollte nach draußen gehen. Während sie mit dem ein oder anderen Kind im angrenzenden Wickelraum verschwand, begann ich aufzuräumen und die Kinder zu animieren, das ein oder andere Teil an seinen Platz zu räumen, den Sinn des Wortes hatte hier offensichtlich noch niemand verstanden. Während ich die eine Kiste einräumte, wurde die nächste Kiste wieder ausgekippt. Ich blieb tapfer am Ball und begleitete mein Handeln mit Worten. Gerade als ein Kind seine „Schlafkiste“ im Regal entdeckte und freudig nach seinem Schnuller angelte, kam meine Kollegin aus dem Wickelraum, mit den Worten „den brauchst du draußen nicht“ und nahm den Schnuller an sich… Wie gewonnen, so zerronnen… Nun ging es hinaus auf den Flur.

Meine Kollegin klärte mich darüber auf, wer seine Schuhe schon allein anziehen könne. Ein Mädchen protestierte lautstark gegen die Anforderung, die da an sie gestellt wurde. Sie blieb stur, meine Kollegin ebenfalls. Ein kleiner Junge saß auf der Bank mit seinem Schuh in der Hand und wirkte wie in Trance. Was um ihn herum passierte, forderte ihn so stark, dass er kaum in der Lage war, sich auf seine Aufgabe zu konzentrieren.

Als wir dann endlich draußen angekommen waren, waren alle neun Kinder schnell auf dem Außenspielgelände verteilt und unter die Kinder der anderen Gruppen gemischt. Einen Überblick zu bewahren, fast unmöglich. Nach ca. eineinhalb Stunden gingen wir zum Mittagessen rein. Nun hieß es Schuhe aus, Puschen an, Hände waschen und an den Tisch. Als die Kinder auf ihren Hochstühlchen Platz genommen hatten, bekamen sie ein Lätzchen umgelegt, Teller und Tasse wurden auf den Tisch gestellt. Die Kinder aßen fast alle selbstständig. Die einen schneller, die anderen langsamer und äußerten, wenn sie noch einen Nachschlag haben wollten. Als das Zeitfenster für das Mittagessen abgelaufen war, wurden die Teller abgeräumt, egal ob sie leer oder noch voll waren. Manch einer wusste gar nicht wie ihm geschah und schaute, mit dem Löffel in der Hand seinem Tellerchen verdutzt hinterher. Nun kam der Waschlappen, zack zack wie am Fließband. Wer sauber war, durfte von seinem Stühlchen klettern und sich auf dem Spielteppich bettfertig machen. Nun wurden die Kisten aus dem Regal geholt und über den Boden zu seinen Besitzern geschoben. Während die einen noch eine frische Windel bekamen, schnappten sich die anderen schon ihre Schnuller und Kuscheltiere und eroberten ihre „Schlafburg“, währenddessen brachte ich den Essenswagen in die Küche und übergab die zwei „Großen“ an die Kollegin in einer der Ü3- Gruppen. Wer nämlich keinen Mittagschlaf mehr macht, spielt derweil bei den Drei- bis Sechsjährigen. Zurück im Schlafraum wies meine Kollegin mich ein, zu wem ich mich setzen sollte. Einige Kinder kommen allein zurecht und blieben ruhig in ihren Bettchen liegen. Andere benötigen noch eine intensivere Schlafbegleitung. Ich setze mich also zu einem kleinen Mädchen und streichelte ihm den Rücken. Ich musste an meine Kinder denken, die ich zuhause begleite, bis sie eingeschlafen sind. Hier kommt diese individuelle Zuwendung nur denjenigen zu, die sich anders nicht an die Situation anpassen würden. Alle anderen müssen alleine durch, mit dem Kuscheltier fest im Arm. Um kurz vor 12 waren alle eingeschlafen. Gerade pünktlich zu meinem Feierabend. Meine Kollegin ging nun in die Pause. Mit dem Babyphon. Ich hoffte für Sie, dass die Kleinen in der nächsten halben Stunde ruhig bleiben, so dass auch sie sich etwas erholen konnte.

Mein Einsatz dauerte drei Stunden und ich war erschöpft wie lange nicht. Es hat mich erstaunt zu beobachten, wie gut die kleinen Mäuse sich anpassen und mit den Anforderungen zurechtkommen. In so einer U3-Gruppe geht es nämlich laut, wuselig und vor allem durchgetaktet zu. Für individuelle Bedürfnisse gibt es hier nicht viel Raum, schon gar nicht in Zeiten von Personalmangel.“