Dr. Agathe Israel ist im Vorstand der Gesellschaft für frühkindliche Bindung, sie ist Fachärztin, Psychoanalytikerin und arbeitet in ihrer eigenen Praxis in der „Säuglings-Kleinkind-Eltern-Therapie“.
Was bedeutet aus entwicklungspsychologischer Perspektive Bildung am Lebensanfang? Also bei Babys und dann den Kindern zwischen einem und drei Jahren?
Agathe Israel: „Bildung, genauer gesagt, gebildet werden und lernen, geschieht am Lebensanfang in ganz anderer Weise als im späteren Leben. Es hat erst einmal nichts mit intellektueller Wissensaneignung oder Training zu tun. Unser Gehirn hat zwar ein Startset von der Natur mitbekommen, aber das muss erst „erweckt“ werden, was nur über intensive Begegnungen mit einem anderen Menschen geschieht, der alles, was vom Kind kommt, aufnehmen kann und will, übersetzt und angemessene Reaktionen (also eine Antwort) anbietet und dann dem Kind den Spielraum gibt, auszuprobieren, was davon ihm hilft. So lernt das Kind sich selbst über das Verhalten eines anderen Menschen kennen. Wir nennen das emotionales Lernen. Daraus entsteht die Bildungsfähigkeit. Sie ist die Basis für das spätere intellektuelle Lernen.“
Inwiefern fördert Bindungssicherheit auch die Bildung?
Agathe Israel: „In den ersten Lebensjahren geraten Kinder sehr rasch aus dem Gleichgewicht, fühlen sich bedroht, gestresst, geängstigt und zwar selbst durch Hunger, Durst, Schmerzen oder Einsamkeit ohne die Zusammenhänge zu verstehen. In solchen Zuständen ist ein Kleinkind auf eine:n aufmerksame:n Erwachsene:n angewiesen, der oder die es sehr genau kennt, von dem es aber auch abhängig ist. Das Kind bindet sich um den 6. Lebensmonat an diese Person. Es ist eine Wahl, die diese Erwachsenen zur VIP (Very important Person) oder MIP (More important Person) macht. Je zuverlässiger sich ein Erwachsener dem Kind für brauchbare Hilfe in Notsituationen anbietet ohne es zu überrollen, desto sicherer ist die Bindung, d.h. desto leichter kann es sich neugierig der Welt zuwenden. Erkunden und Lernen gelingen nur, wenn man keine Angst zu haben braucht.
Kann das nicht auch genauso eine Kitafachkraft leisten? Wie müssten die Rahmenbedingungen sein, dass eine Kitafachkraft zu einer weiteren Bindungsperson werden kann, die das emotionale Lernen eines Kindes in positiver Weise fördert?
Agathe Israel: „Was wir bisher erfahren haben, muss sehr ernst genommen werden: die Bindung zu einer VIP und/ oder MIP entstand durch intensive Begegnungen, wechselseitiges Kennenlernen. Das braucht Zeit, Geduld, Aufmerksamkeit, die Möglichkeit, sich nur auf dieses Kind und sein individuelles Verhalten zu konzentrieren. Das ist in einer Kita nicht möglich. Erzieher:innen können Bezugspersonen werden, Vertraute, an die man sich gewöhnt, aber keine Bindungspersonen. Das lassen weder die Rahmenbedingungen noch das Selbstverständnis der Institution Kita zu. Oft verstehen sich die Erzieher:innen als Betreuer:innen, das kommt vermutlich der Realität am nächsten.
Oft sagen Eltern, dass sie ihrem Kind „das alles“ nicht zu Hause bieten könnten, was eine U3-Betreuung leistet, also die ganzen Angebote und Reize, wie die Erfahrung in der Gruppe.
Agathe Israel: „Ja, das ist ein weit verbreiteter Irrtum, der sich aus verschiedenen Gründen verfestigt hat. Die Überzeugung „Kinder brauchen Kinder“ entsteht überwiegend durch die Beobachtung der Eltern, wie begeistert ihr kleines Kind auf andere Kinder zusteuert. Vergessen wird, dass dies ihm nur so möglich ist, weil es weiß, meine Mama (MIP) oder mein Papa (VIP) sind in der Nähe und werden mich schützen, wenn ich Angst kriege. Was ja auch ganz selbstverständlich geschieht. Der Kita-Alltag ist aufregend, stressig und die Kleinkinder müssen ihre Ängste alleine bewältigen. Studien zeigen, dass das Stresshormon Cortisol bei betreuten Kindern unter 3 Jahren hoch ist und auch im Lauf des Tages – wie es eigentlich sein sollte – nicht absinkt. Das wirkt sich auf die Fähigkeit zur Stressverarbeitung negativ aus.
Einfach mit dem Kind zusammensein, ob nun daheim, beim Besorgungen machen oder dem Spielplatz, wird eher mit Zeit totschlagen als mit Bildung gleichgesetzt. Ist das so – also ist das Zeit totschlagen und wieviel müssen Eltern denn in Bezug auf Bildung in dieser Altersspanne überhaupt bieten?
Agathe Israel: „Bildung findet laufend statt, weil sie am Lebensanfang über den emotionalen Austausch entlang des Alltags läuft. Hier sammelt ein Kind entlang kleiner, gemeinsamer Verrichtungen wertvolle Erfahrungen. Es ist eher der Erwachsene, der sich langweilt, besonders dann, wenn Mama oder Papa sich schwer auf die Abhängigkeit des Kleinkindes einlassen können, seine Bedürfnisse und Ängste wie einen Angriff auf ihre Eigenständigkeit erleben und abwehren, nicht selten, weil sie es in ihrer Kindheit so erlebt haben.“
Wenn es um frühe Bildung geht, werden immer wieder Studien zitiert, die sagen, dass Kinder, die eine Kinderkrippe oder U3-Kita besucht haben, in bestimmten Bildungsbereichen wie z.B. der Sprache oder der Selbstständigkeit schneller seien als Kinder, die erst mit drei Jahren oder später eine Einrichtung besuchen. Ist das so? Wenn ja – wie wichtig ist das für das spätere Leben?
Agathe Israel: „Nein, so eindeutig ist die Studienlage nicht. Und zwar weder, was die Sprache, noch was die Selbstständigkeit angeht. Wird zu Hause viel miteinander gesprochen, sind die Kinder äußerst wendig. Der Sprache gehen der Gedanke und das Denken voraus. Die Ursprünge des Denkens liegen im Versuch, einen anderen Menschen kennenzulernen und „zu erkennen“, der wiederum dem kindlichen Verhalten einen Sinn gibt. Damit schließt sich der Kreis, Sprache bzw. Sprechen ist auf Beziehung angewiesen, ansonsten bleibt es beim Nachsprechen. Je sicherer und geliebter sich ein Kind fühlt, je mehr es individuelle Erfahrungen machen konnte, desto selbstständiger kann es handeln. Es weiß: Was ist richtig – was ist falsch, was passt zusammen – was nicht, was ist oben und unten etc. Krippenkinder lernen, sich anzupassen, sich einzuordnen, zu tun, was man von ihnen verlangt, weil sie auf das Wohlwollen der Erwachsenen angewiesen sind und es gelingt den meisten auch. Anpassung als soziale Fähigkeit ist nur begrenzt im späteren Leben brauchbar, weil die Eigenständigkeit und Selbstwirksamkeit nicht geübt werden konnten.“
U3-Betreuung wird auch oft als Schlüssel zu mehr Inklusion gesehen. Also z.B. pro Gruppe ein Kind mit besonderen Bedürfnissen oder auch gemeinsames Lernen der Unter 3-jährigen von unterschiedlicher sozialer Herkunft. Das würde Ausgrenzung und Ungerechtigkeit entgegenwirken. Da Armut zu einer der Hauptrisikofaktoren für psychische Erkrankungen zählt, macht es doch Sinn, dass gerade diese Kinder einen Großteil des Tages auch schon in den ersten drei Lebensjahren in einer Betreuungseinrichtung verbringen. Oder?
Agathe Israel: „Etwa 25 % der Familien westeuropäischer Staaten benötigen (aus unterschiedlichen Gründen) eine frühe institutionelle Betreuungshilfe ihrer Kinder. Aber Studien haben gezeigt, dass selbst eine bestausgestattete U3-Kita nur begrenzt Defizite ausgleicht. Wir dürfen da nicht zu optimistisch sein. Wesentlich sinnvoller wäre es, die Fähigkeiten der Eltern zu fördern, in den ersten Lebensjahren ihrer Kinder die Ungewissheiten und Unsicherheiten sowie Veränderungen in ihrer Lebensweise zu akzeptieren. Sie zur Einfühlung, Fantasie und Verantwortung zu ermutigen und letztendlich die Bindung aufzubauen. Das kann über verschiedene Wege geschehen. “Elternbildung“ sollte nicht erst dann beginnen, wenn Kleinkinder verhaltensauffällig und entwicklungsrückständig sind, sondern sollte als übliche Unterstützung für alle Eltern gelten, statt Eltern mit immer mehr „Experten und Expertinnen“ auszutauschen.“